1. Teil

Von Ottaviano Turrioni, Minister der OFS-Bruderschaft von Cannara – Perugia,

in Zusammenarbeit mit Fr. Alfred Parambakathu OFMConv., OFS-Generalassistent

Übersetzung: Matthias Petzold

DER HISTORISCHE RAHMEN

Einführung

Das Zeitalter des heiligen Franziskus (1182-1226) ist Teil der großen Erneuerung im sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Bereich zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert, in denen die feudale Gesellschaft in eine Krise gerät, und sich langsam eine neue bürgerliche Ordnung bildet, die von neuen Formen des Ordenslebens begleitet wird.

In der Kirche gab es auf verschiedenen Ebenen seit langem Probleme durch Korruption und Verweltlichung: die Einmischung politischer Mächte bei der Ernennung der Bischöfe und des Papstes (durch die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches seit Karl dem Großen im 9. Jahrhundert) hatte stark dazu beigetragen, die Moral vieler Amtsträger der kirchlichen Institution zu beeinträchtigen.

1. Die Reformbewegung benediktinischen Ursprungs.

Das Phänomen, das als „Reformbewegung“ der Kirche in die Geschichte eingegangen ist, begann mit dem Kloster von Cluny (Frankreich), das 910 mit dem Ziel gegründet wurde, die Kirche wieder zur Botschaft des Evangeliums zurückzuführen, was durch eine Rückkehr zur ursprünglichen Regel des Hl. Benedikt erreicht werden sollte. Die Stärke dieses Klosters, das bald zu einem Zentrum hoher Spiritualität wurde, hing davon ab, dass der Papst den Abt direkt dem Heiligen Stuhl zugeordnet hatte, sodass er nicht mehr der Gerichtsbarkeit des Bischofs unterstand. Das war eine „Revolution“ in Bezug auf die Bräuche der Zeit, in der es üblich war, dass die Bischofswürde ihre Träger erhöhte und in die Sphäre politischer Macht erhob.

Dem Vorbild von Cluny folgten das 1012 von St. Romualdo gegründeten Kloster Camaldoli, das Kloster Vallombrosa (von St. Giovanni Gualberto, 1036) und andere klösterliche Einrichtungen wie der Orden der Kartäuser (St. Bruno von Köln, 1030-1101) und die Zisterzienser (St. Robert von Molesme, 1024-1111) und, alle überragend, St. Bernard von Clairveaux (1090-1153).

2. Europäische Erneuerung

Der Beitrag dieser Mönchsorden für eine Rückkehr zum Geist des Evangeliums, verbunden mit dem entstehenden Phänomen der „europäischen Wiedergeburt“ nach dem Jahr 1000 [Anm.: Die Renaissance begann in Italien wesentlich früher als in Nordeuropa] war bemerkenswert.

Diese Wiedergeburt wurde von mehreren Faktoren bestimmt: vom Ende der Invasionen der Barbaren [der Völkerwanderung], vom beträchtlichen Anstieg der Bevölkerungszahl, vom Niedergang des Feudalismus als politischem System, von der Expansion der Städte, von wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung und ebenfalls von der Reformbewegung der Kirche. Die Kirche war durch zwei weit verbreitete Übel belastet: Durch die Simonie (den Kauf kirchlicher Ämter) und durch das Konkubinat (die Verletzung des kirchlichen Zölibats). Diese Übel waren stark mit der Einmischung der politischen Macht in das Leben der Kirche verbunden, sowohl seitens der kaiserlichen politischen Macht als auch seitens des säkularen Feudalismus.

In dem Kampf, den die Kirche unternahm, um der kaiserlichen Macht zu entkommen und ihre Freiheit wiederzuerlangen, waren zwei Päpste von besonderer Bedeutung: NICOLAS II (980-1061) und vor allem GREGOR VII (um 1015-1085).

Nikolaus II. hatte das Ziel, die Wahl des Papstes dem Klerus, dem römisches Volk und der Zustimmung des Kaisers zu entziehen. Nur das Kardinalskollegium sollte den Papst wählen (Synode von 1059). Der Konflikt verschärfte sich zwischen Papst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV. Sie waren die Hauptprotagonisten des sogenannten „Investiturstreits“, der mehrere Jahrzehnte andauerte. Er endete im Jahr 1122 mit dem Konkordat von Worms, einem Kompromiss, der eine Quelle zukünftiger Zwietracht war, aber trotzdem die Anerkennung der Autonomie des Papsttums bedeutete

3. Von der klösterlichen Spiritualität bis zur Geburt einer neuen Laienspiritualität

Die Mönchsorden wurden bereits erwähnt. Grundlage ihres Konzepts für ein christliches Leben war die Überzeugung, dass die irdische Realität eine Quelle spiritueller Gefahr sei, und nur die individuelle Beziehung zu Gott in der Entsagung des Lebens in einem Kloster den Weg zur Erlösung öffnen könnte. Eine Vision, die natürlich in starkem Gegensatz zum geldgierigen und ausschweifenden Klerus stand, der sich weltlichen Interessen widmete. Und dieses Ideal nährte lange Zeit eine große religiöse Leidenschaft, die viele Menschen anziehen konnte.

Die großen Veränderungen in der Gesellschaft nach dem Jahr 1000 hatten jedoch auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Laien ihr religiöses Leben gestalteten: Es entstand ein neues Bewusstsein und eine religiöse Sensibilität, die näher am Glauben der Urkirche war und das Evangelium in das tägliche Leben und die Kirche näher an die Welt bringen wollte. Es entstand die Idee, dass auch die Laien die Botschaft des Evangeliums in ihrem täglichen Leben leben können. Das war ein wirklich neuer Gedanke im Vergleich zu der alten Überzeugung, dass christliche Vollkommenheit nur im „contemptus mundi“ (Verachtung für die Welt), im Festhalten am klösterlichen oder eremitischen Leben, und mit der Ablehnung der Gesellschaft und der weltlichen Sorgen zu erreichen sei.

Der starke Wunsch nach einer Rückkehr zum Geist des Evangeliums führte jedoch in einigen Fällen zu einer Polemik und Opposition gegen die Kirche und den Teil ihrer Hierarchie, der seinen Auftrag zugunsten einer Verweltlichung vernachlässigte. Bewegungen wie die Katharer, die Waldenser, die Arnaldisten und die Humiliaten waren als Protest gegen diesen Zustand entstanden, aber sie gingen viel weiter und kamen zu theologischen Positionen, die von der Kirche als häretisch angesehen und verurteilt wurden (Konzil von Verona, 1184).

4. Die Büßerbewegung und ihre Entwicklung nach dem Jahr 1000

In der Geschichte der Kirche hat die Büßerbewegung sehr alte Ursprünge. Sie schloss diejenigen mit ein, die sich nach ihrer Taufe zwar dazu entschieden, ihr Leben ganz dem Willen Gottes anzupassen, dabei aber nicht konsequent blieben. Für diejenigen, die weiterhin schwere Sünden begangen hatten, war Vergebung möglich, vorausgesetzt das wirklich ihr inneres Leben verändert und ihr tägliches Verhalten durch Buße, die aus Gebeten, Abstinenz und Almosen bestand, gebessert hatten. In die „Buße“ einzutreten bedeutete, während einer öffentlichen Zeremonie in Gegenwart des Bischof, den Willen auszudrücken, den neuen Zustand des Leben als Büßer zu akzeptieren: den Sitz im hinteren Teil der Kirche, eine kniende Haltung, das Tragen abgenutzter Kleidung, das Rasieren der Haare, der lange Bart … Erst nach Erfüllung der Zeit, die für die Buße festgelegt war, war es möglich, in den Stand der Büßer aufgenommen zu werden. Deren Lebensstil beinhaltete nicht nur für arme Kleidung, sondern auch die Verweigerung von Berufstätigkeiten, die für die eigene Seele schädlich sein konnten, zum Beispiel kommerzielle und finanzielle Aktivitäten sowie den Besuch von beliebten Festen und Theateraufführungen. Es war auch verboten, Waffen zu tragen und an Kriegen teilzunehmen.

Andere Merkmale des Lebens des Büßers waren das Fasten, das je nach den kirchlichen Vorschriften vor allem in den drei Fastenzeiten im Jahreskreis bestand: zu Ostern, nach Pfingsten, zu Weihnachten; freiwillige Geißelung wurde auch als eine Selbstbestrafung angesehen, die andere Bußübungen ersetzte; Pilgerfahrten waren eine Form der Buße, die in jedem Jahrhundert praktiziert wurde. Eine weitere Bußübung, die sowohl von Mönchen als auch von Laien gewählt werden konnte, war die Einsiedelei, also Isolation von der Welt, um nur Gott zu suchen.

5. Die Haltung der Laien gegenüber den „Bruderschaften“

Die großen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen dieser Zeit spiegelten sich auch in der Entwicklung des „Büßerstandes“ wieder. Es ging nicht länger um eine individualistische „Flucht aus der Welt“, um das christliche Ideal zu verfolgen, sondern um ein „Sein in der Welt“, das das Evangelium in den Mittelpunkt stellt, um den armen und demütigen Christus nachzuahmen.

Das Streben nach einem so hohen Ideal brachte viele Laien zusammen, die Gruppen oder „Bruderschaften“ von verheirateten und zölibatären Menschen bildeten, die, auch ohne unbedingt zusammen zu leben, durch das gleiche Engagement für das Bußleben, das gleiche „Propositum vitae“ verbunden waren. (vgl. Pater RIVI, Franz von Assisi und der Laien seiner Zeit, Serie TAU / 2, Rimini 2004, p. 64).

Die Weisheit von Papst Innozenz III. (1160-1216), die neuen Laienbewegungen innerhalb der katholischen Kirche willkommen zu heißen, förderte die Bußbewegungen: er war es, der den Fall der Humiliaten wiedereröffnete und sie mit einem Schreiben vom Juni 1201 anerkannte. Das Schreiben beinhaltete das Propositum, mit dem der Lebensstand der Humiliaten geregelt wurde: Demut, Geduld, Nächstenliebe, Fasten und Gebete waren seine geistlichen Grundsätze. Wir können daher den Dritten Orden der Humiliaten als eine Lebensform betrachten, die dem franziskanischen Dritten Orden in gewisser Weise vorausgeht.

Es wird die außergewöhnliche menschliche und religiöse Erfahrung von Franz von Assisi sein, die den langen Prozess der Erneuerung des Büßerstandes zum Abschluss bringen wird.

Sein Beispiel, seine Worte werden eine beeindruckende Blüte von Männern und Frauen hervorbringen, die in verschiedenen Formen den Weg der christlichen Vollkommenheit beschreiten werden.

6. Franziskus als Büßer

Als Franziskus versteht, dass die Verführungen der Welt (Geld, der Traum der Selbstverwirk-lichung als Ritter, Die Teilnahmen ausschweifenden Feiern seines Freundeskreises …) nicht in der Lage sind, seinem Leben einen tieferen Sinn zu geben, beginnt er eine innere Reise auf der Suche nach einem neuen Lebensstil, die ihn dahin führen wird, die zentrale Bedeutung des Evangeliums zu entdecken und zu leben.

Zu Beginn seiner neuen religiösen Erfahrung spürt Franziskus den Ruf der Bußspiritualität, wie er es selbst in seinem Testament schreibt:

So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben in Buße zu beginnen: denn als ich in Sünden war, kam es mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt. Und danach hielt ich eine Weile inne und verließ die Welt.

Aber der Ausdruck „Ich verließ die Welt“ sollte nicht als Flucht aus der Welt verstanden werden, um sich in ein Kloster zurückzuziehen oder um in einem Wald in der Behausung eines Einsiedlers zu leben: die Isolation, in der Franziskus und seine ersten Gefährten leben ist „in Bewegung bleibend, was den Kontakt mit der Welt überhaupt nicht ausschließt …“ und seine Wunsch, sein Leben nach der Form des heiligen Evangeliums zu gestalten, konnte ihn nur in die Richtung eines apostolischen Lebens bewegen, das heißt zu einem aktiven Leben unter den Menschen “ (G. CASAGRANDE, Ein Orden für die Laien. Buße und Büßer im dreizehnten Jahrhundert, in Franz von Assisi und im ersten Jahrhundert der Franziskaner Geschichte, Turin, 1997, S. 238).

Es war Thomas von Celano selbst, der in seiner Vita Prima (35) betont, dass Franziskus sich dessen bewusst war, dass er von Gott gesandt war, um die Seelen, für die er gestorben war, zu ihm zu führen. Und wenn wir an den Fioretti (Kapitel XVI) glauben schenken, war Franziskus war sich dessen sicher, weil er auf den Rat von Bruder Silvester und der Heiligen Klar hörte. Aber auch Innozenz III. ermutigte ihn, weiter zu predigen, wie Thomas von Celano erzählt (VitaSeconda , 17) in der er schreibt:

Dann begann Franziskus unter Verwendung der ihm gewährten Fähigkeit Samen der Tugend zu säen und predigte mit großer Kraft und Inbrunst überall, in Städten und Dörfern.

Es war eine Predigt an alle: Männer und Frauen, Jung und Alt, gesund und krank, Arbeiter und Bauern, Adlige und Bürgerliche …, eine Botschaft der Bekehrung und Buße, um das Evangelium konsequent zu leben. Das Thema der „Buße“ ist zentral im Leben des Heiligen und in seiner Predigt. Was ist ihr Inhalt?

Die beiden Versionen des Briefes an die Gläubigen können als Kern seiner „Regel des Lebens und der Erlösung“ betrachtet werden (A. FREGONA, The Secular Franciscan Order cit., S. 83), die, ausgehend von der Liebe zu Gott, konkret wird in der Liebe zu Nachbarn und zu Feinden, in Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Demut, Reinheit, Einfachheit, Verachtung für den Körper und seine Laster, Häufigkeit der Beichte und eucharistische Gemeinschaft. Dies sind Kennzeichen des Lebens, das Franziskus und seine ersten Gefährten in ihrem Kontakt mit Menschen durch die Predigt anbieten. Diese Predigt vermittelt Gelassenheit und einen Optimismus, der in der Lage ist, eine wachsende Anzahl von verheirateten und zölibatären Menschen dazu zu bewegen, sich für das Leben als Büßer zu entscheiden, ohne ihre Familie und ihre Arbeit aufzugeben.

Fazit

Der Stand der freiwilligen Buße bestand seit der Antike und war eine Lebensform, die die für jene Laien anerkannte, die sie annehmen und in verschiedenen Formen verwirklichen wollten.

Anders, neu und originell war die von Franziskus für die Laien angeregte „Lebensform“, die die Grundlage für die intensive Wiederbelebung der Büßerbewegung, insbesondere in Mittel-Norditalien darstellte: ein Phänomen, das so bedeutend war, dass es von der römischen Kurie wahrgenommen und berücksichtigt wurde.

Wir kommen also im folgenden Abschnitt zur Veröffentlichung des Memoriale Propositi von 1221.

Den Text gibt es hier auch nochmal als DOWNLOAD